Terence Hensley
24.06.2024
207
Terence Hensley
24.06.2024
207
"Die Schweizer sind die Weltmeister des Urnengangs", so beschreibt Olivier Pauchard, ein Spezialist für Bundespolitik, die Schweizer Bürger, "die häufiger an die Urne gehen als in jedem anderen Land der Welt". Diese politische Praxis wird durch Referenden und obligatorische Volksinitiativen umgesetzt, die beiden wichtigsten Instrumente der direkten Demokratie, die die Politik der Exekutive weitgehend bestimmen. Volksabstimmungen finden in der Regel an vier Sonntagen im Jahr statt (März, Juni, September und November), wobei an jedem Sonntag über eidgenössische, kantonale und kommunale Fragen abgestimmt wird.
Mehr als ein Drittel aller nationalen Volksabstimmungen in der Welt haben in der Schweiz stattgefunden, die von politischen Analysten als der "Goldstandard der direkten Demokratie" bezeichnet wird. Die Inhalte der Abstimmungen reichen von Themen, die große Auswirkungen auf Gesellschaft, Politik und Wirtschaft haben, bis hin zu scheinbar weniger entscheidenden Fragen wie Zeitumrechnung, Kunstkauf, Kuh- und Ziegenhörner.
Volksinitiative bedeutet, dass jeder Bürger die Möglichkeit hat, eine beliebige Angelegenheit, sei sie auch noch so bedeutend, extravagant oder revolutionär, zur Volksabstimmung zu stellen, und wenn der Text von den zuständigen Behörden genehmigt und vom souveränen Volk angenommen wird, tritt er in Kraft.
2015 lancierte der Bergbauer Amin Kapaul fast im Alleingang eine Volksinitiative, um die Hörner von Kühen und Ziegen intakt zu lassen (heute tragen nur noch 10% der Schweizer Kühe ihre Hörner). Mit einem beträchtlichen Teil seines Vermögens und seiner Pensionskasse sammelte er die 100'000 Unterschriften, die für eine Abstimmung über die Initiative nötig waren. Trotz dieser Leistung wurde die Abstimmung mit einer knappen Mehrheit von 54% abgelehnt, so dass die meisten Kühe keine Hörner haben werden.
Im Gegensatz zu Ländern mit repräsentativen Demokratien haben in der Schweiz die Bürgerinnen und Bürger das letzte Wort, wenn die Verfassung geändert wird. Außerdem können sie jedes vom Parlament verabschiedete Gesetz anfechten, indem sie 50.000 Unterschriften von Wahlberechtigten sammeln, die innerhalb von 100 Tagen nach Veröffentlichung des angefochtenen Gesetzes bei der Bundeskanzlei eingereicht werden müssen.
Viele Schweizer Bürgerinnen und Bürger haben einen reichen Erfahrungsschatz mit öffentlichen Institutionen. Olivier Muley beschreibt in seinem Buch Eine politische Geschichte der direkten Demokratie in der Schweiz die langsame Entwicklung des Systems der direkten Demokratie in der Schweiz, wie wir es kennen. "Es ist nicht plötzlich auf die Köpfe der Schweizerinnen und Schweizer gefallen, sondern das Ergebnis einer langen und komplexen Geschichte". Dieses System sei "mit einem sehr schweizerischen Kontext verbunden, in dem der Föderalismus, die Kultur des Dialogs und der Sinn für Konsens hervorstechen"; der Bildungsfaktor sei daher entscheidend und tief im Land verwurzelt. D. Altman beschreibt die Schweizer als reif, klar denkend und erfahren in öffentlichen Institutionen.
Das Referendum, wie wir es heute kennen, wurde von der Französischen Revolution (1792) übernommen, wo es sich nicht durchsetzen konnte. Einige Jahre später wurde dieses Recht der Bürgerinnen und Bürger jedoch in einem kleinen Nachbarland in die Verfassungen aufgenommen, zunächst der Kantone und dann aller öffentlichen und kommunalen Behörden. Das Referendum wurde 1874 als Kontrolle der parlamentarischen Gesetze in die Bundesverfassung aufgenommen, und sechs Jahre später kam das Recht auf Verfassungsinitiativen des Volkes hinzu.
Der eigentliche Ursprung der direkten Demokratie liegt nach Ansicht einiger Gelehrter jedoch in der Landsgemeinde, die seit dem Mittelalter überlebt hat. In einigen kleinen Gemeinden in den Kantonen Apenzell und Glarus gibt es diese Form der Bürgerbeteiligung noch heute: Tausende von Stimmberechtigten versammeln sich einmal im Jahr unter freiem Himmel, um zu diskutieren und ihre Stimme abzugeben. Sie heben nach wie vor die Hand und bestimmen so, ob es eine Mehrheit gibt. Bei klarer Stimmengleichheit werden die Stimmen ausgezählt.
Die Rekordzahl von 700 landesweiten Abstimmungen, die seit 1848 in der Schweiz durchgeführt wurden, zeigt, wie intensiv die Bevölkerung diese demokratischen Instrumente zur Steuerung des Landes und der Gemeinden nutzt, wobei die Zahl der Themen, über die abgestimmt wird, seit den 1970er Jahren deutlich gestiegen ist. Von den rund 700 registrierten Abstimmungen sind 455 Volksinitiativen (oder Bürgerinitiativen) und etwa 240 Referenden. Darunter befinden sich zahlreiche Projekte, die gescheitert sind, weil sie keine Mehrheit gefunden haben, wie z. B. das Referendum zur Reduzierung des Glockengeläuts zu allen Zeiten, autofreie Sonntage oder die Ablehnung einer Volksinitiative zur Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens ohne Arbeit. Zahlreiche Versuche, die scheiterten, weil die erforderlichen Unterschriften nicht gesammelt werden konnten, werden nicht gezählt.
Es ist nun möglich, schon Wochen vor dem Wahltag zu wählen, so dass über 90 Prozent aller Stimmen per Post oder online abgegeben werden, was die Bürgerbeteiligung und die Auszählung beschleunigt, so dass die Wahlurnen am Wahltag offen und halb leer bleiben.
Experten zufolge sind die häufigsten Kritikpunkte an dem System die Langsamkeit, die hohen Kosten und die große Anzahl von Stimmzetteln, die bei einem großen Teil der Bevölkerung zu Ermüdung und Apathie führen.
In der Schweiz wird mit jeder Abstimmung ein rotes Heft mit einer Zusammenfassung der Initiativen verschickt, aber Umfragen zeigen, dass nur wenige Menschen dieses Heft lesen und es kaum eine offene Diskussion über die Themen gibt. Daher sind einige Wähler unzureichend informiert und stimmen bei wichtigen Themen auf der Grundlage von Emotionen ab, ohne ausreichende Kenntnisse der Wirtschaft oder anderer Themen, um eine Entscheidung zu treffen.
David Altman, Professor für Politikwissenschaft an der Päpstlichen Universität von Chile, meint hingegen, dass die Schattenseiten dieses Systems "sich zeigen, wenn einige Gruppen es dazu benutzen, ihre eigene Agenda durchzusetzen, wobei sie oft Minderheiten schutzlos zurücklassen". Die Grünen, "die glauben, dass es in der Schweiz ein Übermaß an Demokratie gibt, schlagen vor, die direkte Demokratie ein wenig einzuschränken, nur ein wenig, und argumentieren, dass Initiativen, die die Grundrechte betreffen, nicht dem Volk zur Diskussion vorgelegt werden können".
Obwohl das Recht auf politische Teilhabe in Artikel 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist: "Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken", beklagt die Öffentlichkeit in vielen Ländern immer noch die Kluft zwischen Politikern und Institutionen einerseits und der Bevölkerung andererseits sowie die Notwendigkeit einer direkten Beteiligung der Bürger an der Entscheidungsfindung.
Im Rahmen des weltweiten Trends zur direkten Demokratie weist D. Altman darauf hin, dass die Schweiz immer wieder als Vorbild gedient hat und ihre Erfahrungen in Ländern, die diese Instrumente zunehmend einsetzen, als Maßstab dienen.
Sollte dies in Spanien umgesetzt werden, "müsste dies im Lichte der Fehler geschehen, die andere gemacht haben". Wie der schweizerisch-spanische Jurist Daniel Ordaz, Autor mehrerer Bücher über die direkte Demokratie in Spanien, betont. "Man kann nicht die Schweizer Verfassung nehmen, die Worte 'Zürich' durchstreichen und 'Albacete' schreiben; die Schweizer haben eine dutzende von Jahren Tradition der direkten Demokratie, und wir haben 1978 mit der repräsentativen Demokratie begonnen."
"Es gibt eine Art mangelndes Selbstwertgefühl, das viele Europäer (wie im Falle Spaniens) zu der Überzeugung führt, dass dieses System nichts für sie sein kann. Die Wahrheit ist, dass die direkte Demokratie eine potenzielle Lösung für die meisten Probleme der Welt ist und durchaus nach ganz Europa 'exportiert' werden könnte", sagt ein politischer Aktivist für die direkte Demokratie, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Er unterstützt die Idee, dass alle westlichen Demokratien die Gesellschaft stärker in den Entscheidungsprozess einbeziehen sollten: "Es sollten permanente Mechanismen zur demokratischen Kontrolle und obligatorischen Bürgerbeteiligung eingeführt werden, damit die Zivilgesellschaft Volksinitiativen einbringen kann, die das Parlament bearbeiten und zur Abstimmung stellen muss, und gleichzeitig können die Bürger eine Volksabstimmung über vom Parlament verabschiedete Dekrete oder Gesetze verlangen, mit denen ein Teil der Zivilgesellschaft nicht einverstanden ist."
Die Schweiz ist ein hervorragendes Beispiel für die partizipative Demokratie, weil sich die Menschen dort durch Referenden und Volksinitiativen aktiv am politischen Prozess beteiligen. Dieses System, das als Goldstandard der direkten Demokratie gilt, gibt der Bevölkerung die Möglichkeit, direkt auf wichtige Entscheidungen Einfluss zu nehmen, von der Änderung der Verfassung bis zur Lösung von Alltagsproblemen. Diese einzigartige politische Praxis hat ihren Ursprung in der Schweiz aufgrund ihrer Geschichte und kulturellen Besonderheiten und hat sich bis heute weiterentwickelt.
Das Schweizer Modell inspiriert auch andere Länder, die eine stärkere Beteiligung der Bürger an der Regierung anstreben. Starana ist ein gutes Beispiel dafür, wie die direkte Demokratie ein nützliches Instrument zur Lösung vieler sozialer und politischer Probleme sein kann. Wie Daniel Ordaz, ein erfahrener Jurist, argumentiert, ist es wichtig, spezifische Bedingungen zu berücksichtigen und aus Fehlern zu lernen, um solche Systeme in anderen Ländern erfolgreich anzupassen. Letztlich ist die direkte Demokratie ein wichtiger Schritt hin zu einer engagierteren und verantwortungsvolleren Zivilgesellschaft.
Erfahrungsberichte